Kapitel 31
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31. „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung“ (Röm 13,10) (Mt; Mk; Lk)
Bibelleseplan: Markus 1,1 bis 8,26
l Lesen Sie Mk 1,1 bis 8,26. Schauen Sie vor dem Lesen in die „Inhaltübersicht“ der LB über das Markusevangelium vor Mk 1. – Das Markusevangelium dürfte vor 70 n. Chr. (Zerstörung Jerusalems durch die Römer) irgendwo im heidenchristlichen Raum (Rom? Syrien?) verfasst worden sein. Darum muss der im Text namentlich nicht genannte Verfasser, der im 2. Jh. n. Chr. mit Johannes Markus identifiziert wurde (Apg 12,12; Kol 4,10; 1Petr 5,13), jüdische Sitten erläutern (z.B. Mk 7,3–4) und in den Erzählstücken aufbewahrte aramäische Worte übersetzen (z.B. 5,41; 15,34). Vermutlich konnte Markus auf Sammlungen von Gleichnissen, Jesusworten, Wundererzählungen und auf die Passionsgeschichte zurückgreifen.
Nach Mk 3,6 steht Jesu Wirken von Anfang an unter dem Zeichen des Kreuzes. Drei Leidensankündigungen Jesu unterstreichen das (Mk 8,31; 9,31; 10,33–34). Jesu Kreuzigung ist die Konsequenz und das Ziel seines Wirkens (z.B. 10,45).
Immer wieder lesen wir im Markusevangelium, dass Jesus Geheilten, den Dämonen oder auch den Jüngern untersagt, ihn als „Sohn Gottes“ oder „Christus“ offenbar zu machen (z.B. Mk 1,44; 3,12; 5,43; 7,36; 8,30). Mit diesem sog. „Messiasgeheimnis“ wollte Markus zum Ausdruck bringen, dass Jesu Wirken erst im Lichte seiner Kreuzigung und von seiner Auferweckung durch Gott her richtig verstanden werden konnte (s. 8,31–33; 9,30–32; s. Kapitel 28.6 S. 188f.). In der Kreuzigung Jesu wurde offenbar, was vom ganzen Leben und Wirken Jesu gilt: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ (15,39; s. auch Mk 9,9 nach 9,2–8).
Vorbemerkung: Wie ein Prophet (z.B. Hos 4,4–10; Mi 3,1–12; s. Kapitel 19.4b S. 105f.; 19.5 S. 106f.) hat sich Jesus besonders mit den religiösen Führern seines Volkes auseinander gesetzt, um sie zur tatsächlichen Beachtung von Gottes Willen zu bewegen. Dabei hat er es nicht an deutlichen Worten oder Handlungen fehlen lassen, um sie in ihrer geistlichen Blindheit, Selbstgerechtigkeit oder auch in ihrem Fehlverhalten zu erschüttern. Wie der Bußruf der Propheten auf Ablehnung stieß (s. Kapitel 19.8 S. 108f.), so wurde auch Jesus (durch die Kreuzigung) zum Schweigen gebracht (Mk 3,6; 14,1–2.64; vgl. 6,1–6).
31.1 Jesu Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten
a) Der Stand der Schriftgelehrten
Wenn in den Evangelien Pharisäer neben Schriftgelehrten genannt werden (z.B. Mt 15,1; Mk 7,1.5), hat man wohl an pharisäische Schriftgelehrte zu denken. Ansonsten muss man zwischen Pharisäern und Schriftgelehrten unterscheiden. Der Stand der Schriftgelehrten hatte sich in der Zeit nach dem Exil herausgebildet, um die Juden im Gesetz (= den 5 Mosebüchern) zu unterrichten (s. Kapitel 23.7b S. 143f.). Weil „das Gesetz“ (z.B. Lk 2,39) das religiöse und das öffentliche Leben regelte, waren die Schriftgelehrten theologische Lehrer und auch Richter (vgl. Lk 12,13–15).
b) Vom „Geist des Gesetzes“ zum „Buchstaben des Gesetzes“
Während der Besprechung des AT hatten wir gesehen, dass die Gebote ein gutes Verhältnis der Israeliten mit Gott und auch der Israeliten untereinander ermöglichen sollten (s. Kapitel 9.5 S. 37f.; 11.2 S. 49f.; 19.5 S. 106f.). Als das Gottesvolk sich nach dem Exil zur Gesetzesgemeinde entwickelte, empfand man das Gesetz als eine segensreiche Gabe Gottes für sein Volk (Ps 1,2–3; 119,44–48; Spr 3,1–2; s. Genaueres in Kapitel 23.7 S. 142ff.).
Doch trat im Laufe der Jahrhunderte der „Buchstabe des Gesetzes“, also die Orientierung am Wortlaut einer gesetzlichen Bestimmung, an die Stelle des „Geistes des Gesetzes (vgl. Röm 7,6; 2Kor 3,6). So war zur Zeit Jesu ein „gesetzliches“ Verständnis der biblischen Weisungen und Gebote verbreitet, wobei man zwischen rituellen und sittlichen Geboten nicht unterschied.
Man zählte in der Bibel 613 Einzelgebote (248 Gebote und 365 Verbote). Die Bibel (unser AT) wurde wie ein Gesetzbuch behandelt. Die einzelnen Paragraphen (Einzelgebote) sollten mit einer Vielzahl von Ausführungsbestimmungen, den sog. „Satzungen der Ältesten“, „haltbar“ gemacht werden (Mk 7,5; diese mündlich überlieferten Traditionen sollten bis in die Mosezeit zurückreichen und wurden darum mit den Geboten der Mosezeit auf eine Stufe gestellt; s. auch Kapitel 27.4 S. 177). Mit dieser Auslegungspraxis legten die Schriftgelehrten ihren Zeitgenossen allerdings ungeheure Lasten auf (vgl. Mt 23,4), denn welcher Mensch war schon dazu in der Lage, 613 Einzelgebote und noch viel mehr Ausführungsbestimmungen im alltäglichen Leben mit seinen Anforderungen und Zwängen umzusetzen? Im Übrigen wurde vorausgesetzt, dass der Mensch alle Gebote Gottes halten und mit entsprechenden Leistungen in Gottes Gericht bestehen könnte.
Von der Last solchen Leistungsdrucks wollte Jesus die Menschen befreien, indem er sie in seine Nachfolge rief: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht“ (Mt 11,28–30).
c) Jesus befreit von der Gesetzlichkeit
Die Gebote sollen den Menschen dienen, nicht umgekehrt
Indem Jesus auf den „Geist“, also auf den hinter einem Gebot stehenden Willen Gottes hinwies, befreite er die Menschen von dem Zwang, die einzelnen Gebote mit Hilfe von zusätzlichen Ausführungsbestimmungen (s.o.) halten zu müssen: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen (Mk 2,27; s. Kapitel 27.4b S. 177). Weil das Gebot für den Menschen da ist und nicht umgekehrt, kann man nach Jesus am Sabbat auch notwendige Dinge tun (z.B. 2,23–24) und z.B. Menschen heilen (3,1–5).
Das Doppelgebot der Liebe
Auf dem Hintergrund des Verständnisses des Gesetzes als einer Ansammlung von 613 Einzelgeboten versteht man die Frage eines Schriftgelehrten nach dem wichtigsten Gebot in der Tora (Mk 12,28). Jesus antwortet ihm mit dem „Doppelgebot der Liebe“: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben ... [5Mose 6,5]“ und „... deinen Nächsten wie dich selbst [3Mose 19,18]“ (Mk 12,30–31). Die Gebote der Gottesliebe und der Nächstenliebe (wie dich selbst) enthalten alles, was das Gesetz des Mose und die Lehren der Propheten über Gottes Willen aussagen (Mt 22,40).
Wer das begriffen hat und davon ergriffen ist, dem ist das Gesetz „ins Herz geschrieben“ (Jer 31,33; s. Kapitel 21.4 S. 121f. und die Abb. auf S. 122). Er kann Gottes- und Nächstenliebe üben, ohne dafür ausgeklügelter Einzelanweisungen zu bedürfen; er erfüllt Gottes Willen „im Geist“, d.h. von Herzen, aus seinem Inneren heraus: Gott „hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, der nicht vom Buchstaben, sondern vom Geist bestimmt ist. Denn der Buchstabe (= die Orientierung am Wortlaut einer gesetzlichen Bestimmung) tötet, aber der Geist (= der hinter einem Gebot stehende göttliche Wille) macht lebendig“ (2Kor 3,6); er befähigt uns also zur Gottes- und zur Nächstenliebe. Mit unserer Liebe zu Gott und zu unserem Nächsten antworten wir auf die Erfahrungen von Gottes Liebe zu uns (z.B. Lk 15,20.21–24; 1Joh 3,1; 4,10. 19–21).
Die von den Schriftgelehrten gepflegte Gesetzesfrömmigkeit blieb beim Wortlaut eines Einzelgebots stehen und drang nicht zum „Geist des Gesetzes“ vor. Darum warf Jesus den Schriftgelehrten mit dem Zitat von Jes 29,13 vor, Gott zwar „mit den Lippen zu ehren“, „aber ihr Herz ist fern von mir“; ihre „Lehren“ (= die „Satzungen der Ältesten“ [s.u.]) sind nichts anderes als „Menschengebote“ (Mt 15,8–9). Hart war sein Vorwurf, dass sie mit ihrer gesetzlich-kasuistischen Schriftauslegung den Menschen „unerträgliche Lasten“ auflegten, doch sie selber „nicht mit einem Finger anrührten“ (Lk 11,46; s. auch 11,47–52). Ihr Verhalten entsprach nicht ihren Worten (Mt 23,2–4).
Die Abbildung „Gottes Liebe macht uns zur Gottes- und Nächstenliebe bereit“ veranschaulicht die oben ausgeführten Gedanken: Gottes Liebe erfahren wir durch Jesus Christus (vgl. Joh 1,17). Er starb für unsere Sünde und Schuld (s. Kapitel 30.2 S. 197 und 30.c S. 198f.). Weil Gott uns um Christi willen gnädig ist, antworten wir auf seine Liebe zu uns mit unserer Liebe zu Gott (Pfeil zur linken Gebotstafel) und zu unserem Nächsten (Pfeil zur rechten Gebotstafel).
d) Jesu Kampf gegen die „Satzungen der Ältesten“
Scharf war Jesu Vorhaltung, dass die auf korrekte Gebotserfüllung bedachten Schriftgelehrten mit ihrer Auslegungspraxis die tatsächliche Erfüllung der Gebote Gottes verhinderten: „Vergeblich dienen sie mir, weil sie lehren solche Lehren, die nichts sind als Menschengebote. Ihr verlasst Gottes Gebot und haltet die Satzungen von Menschen“ (Mk 7,7–8).
Beispielhaft macht Jesus dieses am „Korban“-Gelübde klar, das zu einer Aushöhlung des 4. Gebots geführt hatte. „Denn Mose hat gesagt: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren ... Ihr aber lehrt: Wenn einer zu Vater oder Mutter sagt: ‚Korban’ – das heißt: Opfergabe soll das sein, was dir von mir zusteht –, so lasst ihr ihn nun nichts mehr tun für seinen Vater oder seine Mutter und hebt so Gottes Wort auf durch eure Satzungen, die ihr überliefert habt; und derlei tut ihr viel“ (Mk 7,10–13). Mit dem Korban-Gelübde konnte sich ein Mensch seinen Unterhaltsverpflichtungen den eigenen Eltern gegenüber – eine Rente gab es damals nicht – entziehen, indem er sein Hab und Gut dem Tempel weihte. Nach seinem Tod musste sein Eigentum dem Tempel ungeschmälert übereignet werden. Die Gottesliebe (Widmung des eigenen Besitzes für den Unterhalt des Tempelkults) wird hier gegen die Nächstenliebe (4. Gebot) ausgespielt. Das widerspricht nach Jesus dem Willen Gottes, nach dem Gottesliebe und Nächstenliebe untrennbar sind (Mt 22,34–40; Mk 12,28–34; Lk 10,25–28.29–36; s.o.).
Weil die Schriftgelehrten Gottes Gebote mit den „Satzungen der Ältesten“ geradezu außer Kraft setzen konnten (Mk 7,9.13), nannte Jesus sie „Heuchler“ (z.B. Lk 13,15; Mt 23,13). Es verwundert nicht, dass später auch die Schriftgelehrten unter denen waren, die Jesus gewaltsam zum Schweigen brachten (Mk 14,1; 2,6–7).
31.2 Jesu Auseinandersetzung mit den Pharisäern
a) Die Laienbewegung der Pharisäer
Während die Schriftgelehrten hauptberufliche Theologen waren, waren die Pharisäer mit Ausnahme der pharisäischen Schriftgelehrten (s.o.) zumeist Kaufleute oder Handwerker, die als „Abgesonderte“ („Pharisäer“ kommt vom hebräischen „peruschim“) inmitten des Gottesvolkes (!) lebten. Als besondere Verpflichtung des pharisäischen Lebens sind zu nennen die penible Einhaltung der einzelnen Gebote (s.o.), die gewissenhafte Beachtung der Abgabe des Zehnten und die sorgsame Praktizierung von Reinheitsvorschriften (s. Genaueres in Kapitel 27.6 S. 176f.).
b) Der religiöse Verdienstgedanke
Die Pharisäer wurden in ihrem religiösen Engagement u.a. auch durch den Verdienstgedanken motiviert, nach dem die Beachtung der Gebote von Gott positiv angerechnet wurde, während Gebotsübertretungen negativ zu Buche schlugen. Mit besonderen Anstrengungen wie Sonderfasten (Mk 2,18; Lk 18,12) und Almosengeben (vgl. Mt 6,1–4) versuchten sie, gelegentliche oder unbewusste Gebotsübertretungen wieder gutzumachen. Das hinter diesem religiösen Leistungsdenken stehende Gottesbild ist das eines Kaufmanns oder Richters, dessen Entscheidung davon abhängig ist, wie genau es ein Mensch mit dem Halten der Gebote genommen hat.
Der religiöse Verdienstgedanke setzt voraus, dass der Mensch Gottes Gebote halten kann. Ganz anders sah das der ehemalige Pharisäer Paulus (Phil 3,5–6), nachdem er Christ geworden war: Die Macht der Sünde hindert den Menschen daran, Gottes Gebote zu erfüllen (z.B. Röm 7,14–25). Positiv verhelfen die Gebote dem Menschen jedoch zu der Erkenntnis, dass er ein Sünder ist (Röm 3,20; 7,7; Gal 2,16).
Jesu radikales Gebotsverständnis
Auch Jesus widersprach der Überzeugung, dass man sich mit Hilfe genauer Gebotserfüllung einen „Platz im Himmel“ sichern könne: Gottes Wille wird auch mit noch so vielen Ausführungsbestimmungen nicht getan, sondern immer nur eingegrenzt. Gottes Wille gilt aber unbegrenzt. Darum schließt z.B. die Liebe nicht nur den Nächsten, sondern auch den Feind mit ein (z.B. Mt 5,43–47). Jesus radikalisierte die Gebotsauslegung, damit die Pharisäer und alle Menschen der eigenen Sündhaftigkeit und Schwachheit ansichtig werden: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: ‚Du sollst nicht ehebrechen.’ Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen“ (Mt 5,27–28; s. auch 5, 21–22.33–37).
Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner
Mit dem Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18,9–14) und anderen Gleichnissen wollte Jesus die Pharisäer in ihrer Selbstsicherheit erschüttern; denn sie täuschten sich über ihre wirkliche Situation vor Gott. Das Gebet des Pharisäers (18,11–12) lautet im Grunde: „Gott, ich habe alle Gebote gehalten und mehr getan als ich nötig habe. Du wirst mit mir sicher zufrieden sein.“ In lieblosester Weise erhebt er sich über „diesen Zöllner [da]“ (18,11). Weder liebt er, wie es dem Doppelgebot der Liebe entspräche, seinen Nächsten noch auch Gott; denn er vertraut nicht auf Gott, sondern auf seine frommen Leistungen.
Anders der Zöllner: Er ist sich bewusst, ein Sünder zu sein. Aber das hindert ihn nicht daran, in den Tempel zu gehen, denn er vertraut auf die Gnade Gottes: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (18,13). Jesus sagt nun, dass Gott den Zöllner, nicht aber den Pharisäer angenommen hat (18,14a). Der wohl vorne im Tempel betende Pharisäer (vgl. 18,13) steht mit seiner Frömmigkeit Gott ganz fern. Frömmigkeit kann eine besondere Form der Gottesferne sein.
c) Reinheitsgebote und Zehntpflicht
Dem pharisäischen Bemühen um rituelle Reinheit (z.B. Mk 7,3–4; zu den Reinheitsgeboten des AT s. Kapitel 12.6 S. 58ff.) hielt Jesus ein radikal anderes Verständnis von Reinheit entgegen: Nichts von außen in den Menschen Hineinkommende verunreinigt ihn, sondern die bösen Gedanken des Herzens, die aus dem Menschen herauskommen, führen zu Gebotsübertretungen (Mk 7,17–23; Lk 11,39–40). Wenn Jesus die Pharisäer mit „übertünchten Gräbern“ verglich, die „von außen hübsch aussehen“, „innen“ aber „voller Totengebeine und lauter Unrat“ sind, dann traf dieser Vergleich die auf rituelle Reinheit bedachten Pharisäer besonders hart (Mt 23,25–28).
Auch die für die Pharisäer charakteristische, penible Einhaltung der Zehntpflicht hielt Jesus für ein frommes Bemühen an der falschen Stelle: Es geht nicht an, dass man Kleinigkeiten wie „Minze, Dill und Kümmel“ korrekt verzehntet, aber „das Wichtigste im Gesetz“ übergeht, „nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben“ (Mt 23,23; Lk 11,42).
Wie den Schriftgelehrten, so warf Jesus auch den Pharisäern eine „heuchlerische“, also unehrliche und zudem auf öffentliche Anerkennung bedachte Frömmigkeit vor (z.B. Mt 5,20; 6,1–4.5–6.16–18; 23,13.15.23) und machte sie sich damit zu Todfeinden (z.B. Mk 3,6).
31.3 Jesu Auseinandersetzung mit der Priesterschaft
Schon die Propheten standen den Opfern von ansonsten gottentfremdeten Menschen kritisch gegenüber (s. Kapitel 19.4b S. 105): „Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer, an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer“ (Hos 6, 6). Dieses Wort wird sowohl in Mt 9,13 als auch in 12,7 zitiert und setzt die Gottes- und Nächstenliebe über den Opferkult; ähnlich auch Mt 5,23–24: „Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe.“ Gottesliebe (Opfer) und Nächstenliebe (Versöhnung mit dem Bruder) sind also untrennbar. Wie diese Worte Jesu den Opferkult respektieren (s. auch Mt 17, 24–27; Mk 1,40–44), so hat Jesus den Tempel auch als eine Stätte besonderer Gottesnähe geschätzt (Mt 21,13; 23,16–22; 26,55; vgl. Lk 2,49; in einer Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern sagt Jesus von sich: „Ich sage euch aber: Hier [in mir] ist Größeres als der Tempel“: in Jesu Wirken und Wort kann man Gott also näher kommen als im Tempel).
Mit der sog. „Tempelreinigung“ stellte Jesus allerdings den Opferkult selber in Frage. Alle Evangelien berichten, dass Jesus – wohl mit einer Zeichenhandlung (s. Kapitel 18.5b S. 100) – Tische der Geldwechsler und Stände der Tierhändler umstieß und Wechsler und Händler aus dem Tempel trieb (z.B. Mk 11,15–18; in der Diaspora oder entfernter von Jerusalem lebende Juden waren darauf angewiesen, im Tempel mit der dort verlangten Währung [tyrische Schekel] fehllose Opfertiere zu kaufen [3Mose 1,3; Mal 1,8.14]). Ohne Tiere ist ein Opferkult aber nicht vollziehbar.
Mit seinem Vorgehen brachte Jesus zum Ausdruck, dass die Heilszeit angebrochen ist (Sach 14,21b; vgl. Mk 1,15). Dass die Gemeinschaft mit Gott in der Heilszeit allen Völkern und nicht nur dem Gottesvolk Israel gilt (s. Kapitel 21.5 S. 122f.), machte Jesus mit einem Zitat aus Jes 56,7c deutlich: „Mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker“ (Mk 11,17).
Die erste Abbildung von Kapitel 31,3 veranschaulicht den Ausschluss der Heiden aus Gottes Gemeinschaft (eine Mauer trennt die Heiden von Gott und dem Gottesvolk).
Der Ausschluss der Heiden aus Gottes Gemeinschaft ist in der Heilszeit überwunden, in der alle Völker Gemeinschaft mit Gott haben (Doppelpfeile):
In Anspielung an Jer 7,11 warf er den Priestern vor, aus dem Tempel Gottes eine „Räuberhöhle“ gemacht zu haben (Mk 11,17), ihr priesterliches Amt also aus Profitgier zu betreiben. In korrekter Übereinstimmung mit den alttestamentlichen Opfervorschriften missbrauchten sie ihr Priesteramt zur Geschäftemacherei mit Gott (Verstoß gegen die Gottesliebe) und mit der Frömmmigkeit des Volkes (Verstoß gegen die Nächstenliebe). Die Priesterschaft reagierte auf Jesu Vorgehen und Vorhaltungen mit dem Beschluss, ihn zu töten (Mk 11,18; 14,1–2).
31.4 Jesus hebt das Absonderungsgebot auf
Die Pharisäer (= Abgesonderte) hielten das Absonderungsgebot durch ihre Existenz lebendig. Nach dem Exil (s. Kapitel 23.7a S. 143) wurde die Absonderung von den Heiden und zur Zeit Jesu auch von Angehörigen des eigenen Volkes (Essener / Pharisäer: s. Kapitel 27.4b S. 175ff.) streng durchgeführt, wobei der eigentliche Sinn der Absonderung als Glaubenshilfe (s. Kapitel 8.3 S. 29f.; 9.2 S. 34ff.) aus dem Blickfeld geraten zu sein schien.
Nach Jesus waren die Heiden vom Reich Gottes aber nicht aus-, sondern eingeschlossen (z.B. Mk 11,15–17; s.o.). Zeichenhaft hob er darum das Absonderungsgebot auf:
Mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) machte er deutlich, dass es gerade dieser in den Augen der Juden gottlose Samaritaner (Joh 4,9; s. Kapitel 23.4a + 5 S. 139.141) war, der Gott wirklich gedient hat (Lk 10,27), während die jüdischen Gottesdiener (Priester und Levit) Gott gerade nicht dienten, als sie sich ihrem hilfsbedürftigen Nächsten versagten; denn Gottesliebe und Nächstenliebe sind untrennbar (10,25–28). – Von zehn geheilten Aussätzigen kehrt nur einer dankbar zu Jesus zurück, „und das war ein Samariter“ (Lk 17,16); „dieser Fremde“ ist „umgekehrt“ und hat „Gott die Ehre gegeben“ (17,18). – Von einem römischen Hauptmann sagt Jesus: „Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden“ (Mt 8,10 in 8,5–13; s. auch 8,11–12 und 21,28–32.33–46). – Scheint die Geschichte von der Heilung der Tochter einer kanaanäischen Frau (Mt 15,21–28) die Sonderstellung des jüdischen Volkes zunächst zu bestätigen (15,24.26), so sagt Jesus am Ende: „Frau, dein Glaube ist groß!“ (15,28).
Was im irdischen Wirken Jesu zeichenhaft deutlich wurde, soll nach Ostern weltweit Realität werden: „Alle Völker“ werden eingeladen, Jesus nachzufolgen und Bürger von Gottes Reich zu werden (Mt 28,18–20). Im Missionsauftrag Christi erfüllt sich also die Abrahamsverheißung von 1Mose 12,3 (s. z.B. Kapitel 7 S. 23ff.). Darum lässt Matthäus den Stammbaum Jesu auch bei Abraham beginnen (Mt 1,1). Es hat einige Zeit gedauert, bis die vom Absonderungsdenken geprägten Jünger Jesu Verhalten verstanden und begriffen, dass das Absonderungsgebot keine gottgewollte „Dauereinrichtung“ war (Apg 10,1–48).
31.5 Zusammenfassung
Jesus geriet mit den religiösen Führern seiner Zeit, den Schriftgelehrten, Pharisäern und Priestern, in Konflikt, als er sein Volk in die Nähe Gottes und zu einer tatsächlichen Beachtung von Gottes Willen zurückrief. Den geistlichen Führern seiner Zeit erschien es so, als wollte Jesus die heiligen Ordnungen des AT und die religiösen Traditionen in gotteslästerlicher Weise außer Kraft setzen (z.B. Mk 2,7; 14,64). Darum erwirkten sie bei den Römern seine Verurteilung zum Tode.
Jesus wollte allerdings die Grundlagen des Gottesvolkes nicht in Frage stellen, sondern wieder neu zur Geltung bringen: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (Mt 5,17; „erfüllen“ = auf den vollen von Gott gemeinten Sinn bringen). Das Gesetz und die Zehn Gebote, also der Wille Gottes werden durch die Gottes- und Nächstenliebe erfüllt (Mk 12,28–31; s.o.). „So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung“ (Röm 13,9–10). Indem Gott uns durch die Erfahrung seiner Liebe zur Gottes- und Nächstenliebe befähigt (Röm 5,5; 1Joh 4,10), versetzt er uns in die Lage, „im Geiste“ (s.o.) als seine Kinder zu leben (z.B. Joh 1,12; Röm 8,14; vgl. Mt 6,9) und so auch anderen Menschen zum Segen zu werden (1Mose 12,2–3).
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